Paradiesvogel wider Willen

Ein Artikel von Martina Helmig über Jochen Kowalski

... erschienen am 26.02.2009 in der Fernsehzeitschrift FF-Dabei (TV Today)

Seinen ersten TV-Auftritt hatte Jochen Kowalski 1983 in der DFF-Sendung "Sprungbrett".
Inzwischen ist der 55-jährige Berliner Countertenor ein weltweit gefragter Opernstar,
dem junge Tenöre nacheifern. Dabei ist er sehr bodenständig geblieben und froh,
nach schwerer Krankheit wieder in Hochform zu sein.

"Ich sehe meinen Vater im Sessel sitzen, mit Tränen in den Augen. Auch meine Mutter starrte den unbedarften, jungen Mann auf dem Bildschirm an und weinte. Das hat mich unglaublich berührt", erzählt Jochen Kowalski. Der Countertenor erinnert sich an seinen ersten großen Fernsehauftritt 1983 in der Sendung "Sprungbrett".

"Das war so etwas wie ‚Die DDR sucht den Superstar‘, und ich belegte den ersten Platz. Ich selbst gefiel mir gar nicht. Aber meine Eltern haben mich an diesem Abend tief bewegt. Ich glaube, das war der Moment, von dem an sie wirklich an meine Karriere als Opernsänger glaubten."

"Nie wäre ich auf die Schnapsidee gekommen, als Mann so hoch zu singen." Jochen Kowalski Seit zweieinhalb Jahrzehnten ist er ein Weltstar. Jochen Kowalski hat strahlende Helden auf den bedeutendsten Bühnen verkörpert. Zwischen Wien, Tokio, New York und St. Petersburg wird der Berliner Kammersänger gefeiert. Die magische Aura seiner sinnlichen Altstimme und seine charismatische Bühnenpräsenz sorgen immer und überall für gehobene Festtagsstimmung. Seine Fans machen ihm Heiratsanträge. Aus dem Schwarzwald bekommt er Schinken und selbstgemachte Marmelade. Japanische Musikfreunde versorgen ihn im Winter mit Strickschals und warmen Socken. Heute ist das alles für ihn normal. Doch damals, am Anfang seiner erstaunlichen Karriere, glaubten alle an ein Wunder - seine Eltern, Freunde, Lehrer und am meisten er selbst.

Jochen Kowalski ist nicht stolz darauf, mit einer außergewöhnlich hohen Stimme begabt zu sein. "Ich wollte das ja nicht", meint er. "Nie wäre ich auf die Schnapsidee gekommen, als Mann so hoch zu singen." Der Metzgersohn aus dem brandenburgischen Dorf Wachow hat eigentlich nicht das Zeug zum Paradiesvogel. Er ist ein bodenständiger, warmherziger Mensch, der so gar nicht dem überkandidelten Künstlerklischee entspricht. Kein anderer Opernsänger berlinert so ungeniert, niemand sonst erzählt seine Geschichten so offen und ehrlich. Mit dem Fürsten Myschkin aus Dostojewskis Roman "Der Idiot" fühlt er sich geistesverwandt: "Ich habe die Menschen so gerne. Ich glaube immer gar nicht, dass sie schlecht sein können."

Niemand war Musiker in seiner Familie. Im Radio und im Fernsehen entdeckte er Wagner und Mozart für sich. Während seine Klassenkameraden Partys feierten, hing er mit dem Ohr an einer Übertragung von den Bayreuther Festspielen oder sauste mit dem Moped zu einer Vorstellung in die Berliner Staatsoper. "Du wirst später mal Gänsesenger bei Aschinger", neckte ihn seine Mutter. In dem Traditionslokal gab es immer junge Leute, die den Gänsen die Federkiele absengen mussten.

Doch er wollte ein richtiger Sänger werden. Seinem Tenor-Idol Fritz Wunderlich eiferte er nach. Dabei war niemand sonst von der Idee begeistert. Zweimal fiel er durch die Aufnahmeprüfung an der Hochschule für Musik "Hanns Eisler" in Berlin. Fünf Jahre lang arbeitete er als Requisiteur an der Staatsoper. Als die Hochschule dem Temperament des Unentwegten endlich doch nachgab, quälte er sich fünf Jahre lang als mittelmäßiger Tenor. "Ich war da der letzte Husten und sollte irgendwo nach Nordhausen ans Theater gehen", erinnert sich Jochen Kowalski.

Dann kam die wundersame Wandlung. In einer Korrepetitionsstunde sang er aus Spaß für eine Altistin die hohen Töne, die sie nicht schaffte. "Mensch, du bist ja ein Countertenor", hieß es hinterher. Den Begriff hatte Jochen Kowalski noch nie gehört. In der Bibliothek machte er sich sachkundig, denn Countertenöre gab es schon früher - in der Renaissance und im Barock.

In letzter Zeit lebt er auch seine Liebe zum Swing und Schlager aus Nach der Entdeckung seiner einzigartigen Stimme ging alles ganz schnell. 1982 erregte Kowalski Aufsehen bei den Händelfestspielen in Halle. Ein Jahr später debütierte er an der Komischen Oper, deren Ensemble er bis heute angehört. Seiner Ausnahmestimme standen alle Türen zur großen Musikwelt offen. Händels "Belsazar" sang der neue DDR-Star 1985 in der Hamburgischen Staatsoper. Besonders stolz war er damals darauf, dass eine Aufführung im NDR übertragen wurde. Zum "Beweis" für seine Eltern und die Freunde im Dorf nahm er eine Fernsehzeitschrift aus dem Westen mit nach Hause: "Ich schmuggelte sie auf dem Rücken. Der Angstschweiß an der Grenze bewirkte, dass ich das Titelbild hinterher auf der Haut hatte."

Sein "Heimathafen" ist die Komische Oper, wo er u. a. in "Der goldene Hahn" zu sehen ist Berlin - das ist seine Stadt. Viele Angebote bekam er schon in den achtziger Jahren aus dem Westen. Aber Kowalski wollte nicht. "Ich brauchte mein Nest", sagt er, und er meint seinen Heimathafen Komische Oper mit dem Intendanten Werner Rackwitz, dem Regisseur Harry Kupfer und seiner Frau Marianne, die seine besondere Begabung entdeckt und gefördert haben. Bei den Auslandsreisen hatte er immer Heimweh. Aus lauter Einsamkeit schrieb er während seines ersten Parisgastspiels einen langen, rührenden Brief an Marlene Dietrich. Ihr Antwortschreiben hängt heute gerahmt an seiner Zimmerwand. Der Westen war für ihn als junger Mann wie eine aufregende, aber völlig fremde Welt, in der er viel lernen musste. Nur im Theater fühlte er sich immer wohl. "Dort herrschen überall dieselben Grundregeln." Inzwischen nennen viele junge Countertenöre Jochen Kowalski ihr Vorbild, ihr Idol. "Das gibt mir zu denken", sagt der 55-Jährige. "Ich fühle mich nicht wie ein Oldie." Er selbst hat zwei Schüler in Russland. Mit dem wachsenden Interesse an Alter Musik und historischer Aufführungspraxis sind auch die Countertenöre wieder auferstanden. Inzwischen gibt es einen regelrechten Boom in der seltenen Stimmlage. Zahlreiche junge Sänger stehen in den Startlöchern. Jochen Kowalski freut sich darüber, diese Bewegung mit angestoßen zu haben. Oft genug hat er auf der Bühne Gelächter geerntet. Jahrelang war er mit seiner ungewöhnlichen Begabung ein Außenseiter. Heute muss er nicht mehr in jeder Talkshow erklären, was ein Countertenor ist und warum er "wie eine Frau" singt.

Nasskaltes Wetter verträgt seine empfindliche Stimme schlecht. Vor den Vorstellungen verbietet sich der Sänger Saunabesuche und Alkohol. Er schont dann auch seine Stimme, indem er nicht zu viel redet. Regelmäßig geht er zum Fitnesstraining. Er tut alles, was nötig ist, um sich in Hochform zu halten. Als "Opfer für die Kunst" hat er das nie empfunden. In so hochgestochenen Kategorien denkt Kowalski nicht. Einmal hat ihn jemand gefragt: "Wenn Sie während des langen Nachspiels bei der ‚Dichterliebe‘ auf der Bühne stehen und so verinnerlicht gucken: Woran denken Sie dann?" Der Opernstar antwortete: "Das kann ich Ihnen sagen. Ich denke darüber nach, ob ich gleich einen Wein oder ein Bier trinken will und ob ich dazu lieber ein Würstchen oder eine Bulette hätte."

In "Musik für jedes Alter" trat Kowalski an der KO auch als Erzähler und Fußballreporter auf Sein Repertoire ist nicht bei Händels "Julius Cäsar", Glucks "Orpheus und Eurydike" und dem Prinzen Orlowsky in der "Fledermaus" stehen geblieben. "Ich will immer etwas Neues entdecken", sagt der Sänger. Das können unbekannte, barocke Albinoni-Arien sein oder Klaus-Nomi-Lieder von Olga Neuwirth. Nach der Wende hat er sein Faible für Salonmusik, Schlager und Swing auf die Bühne gebracht. "Das hätte ich mich in der DDR nie getraut", erklärt er. "Da war ich ausschließlich für die hehre Kunst zuständig.". Dabei lieben es seine Fans, wenn er russische Jazznummern oder alte Schlager wie "Roter Mohn" und das "Glühwürmchen-Idyll" interpretiert. Er genießt es, über den Flohmarkt von St. Petersburg zu schlendern und Platten-Raritäten zu entdecken.

Er hat immer viele Pläne. Jochen Kowalskis Programm mit Barockarien und Jazz ist so gefragt wie der musikalisch-literarische Puschkin-Abend mit Dieter Mann. Jetzt studiert er Franz Schuberts "Winterreise". Auch an der Komischen Oper sind neue Projekte im Gespräch. Trotzdem ist der Gesang für ihn nicht mehr das einzig Wichtige. Ein leichter Schlaganfall 2002 und eine Herzoperation 2007 brachten ihn zum Nachdenken: "Als ich so im Krankenhausbett lag, habe ich über das nachgedacht, was ich alles verpasst habe, weil ich immer nur Opernhäuser, Hotels und Flughäfen gesehen habe." Er hat sich jetzt vorgenommen, das Leben intensiver zu genießen, Museen zu besuchen, zu reisen, Neues zu entdecken.
"Noch in diesem Jahr möchte ich mit der Transsibirischen Eisenbahn fahren", kündigt er an. "Aber nicht mit den reichen Touristen, sondern in dem Abteil, in dem die Russen sitzen. Von Moskau nach Wladiwostock - das war immer mein Traum."

Martina Helmig